Dachau

Versöhnungskirche

Anschrift Kirche
Alte Römerstraße 87
85221 Dachau

Wider den Terror des rechten Winkels

Von allen Orten im Diesseits ist das Konzentrationslager wohl derjenige, der Gott am fernsten ist. Wie kann gerade dort ein Gotteshaus entstehen? Um diese Aufgabe zu bewältigen, musste der Architekt Helmut Striffler ungeheure kreative Kraft aufbringen. Herausgekommen ist ein Gegenort zur rechtwinkligen und geradlinigen Topographie des Terrors, ein Bau ohne jeden geraden Winkel. Seine besondere Wirkung entfaltet der Raum, der eigentlich mehr ein Gang ist, beim Durchschreiten: Durch das weite Entrée steigen Besucher in einen engen Tunnel hinab, der dann im Innenhof wieder den Blick in den Himmel freigibt und zum Gottesdienstraum führt, an dem vorbei der Weg zum Ausgang wieder emporsteigt.

  • Überblick
    Ort
    Dachau

    Landeskirche
    Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern 


    Name der Kirche
    Versöhnungskirche

    Einweihung
    1967 (30. April)

    Architekt
    Helmut Striffler

    Künstler
    Emil Kiess, Carel Kneulman, Fritz Koenig, Fritz Kühn, Hubertus von Pilgrim
    Besonderheit
    Nach außen den schalungsrauen Sichtbeton zeigend, liegt der plastische Baukörper größtenteils unter dem Terrain. Der Grundriss hat keine rechten Winkel und entwickelt sich aus zwei Mauern, deren Ausbuchtungen entlang des Durchgangs die Räume erzeugen.

    Nutzung
    Die Evangelische Versöhnungskirche dient als Gedenk-, Lern-, Seelsorge- und Gottesdienstort.

    Standort / Städtebau
    Die Versöhnungskirche liegt am Nordende des Geländes des ehemaligen KZ Dachau, in unmittelbarer Nachbarschaft zur katholischen Todesangst-Christi-Kapelle und der jüdischen Gedenkstätte.

  • Beschreibung

    Grundriss

    Dachau | Versöhnungskirche | Grundriss

    Dachau | Versöhnungskirche | Grundriss

    Im Grunde genommen ist die Versöhnungskirche kein Raum, sondern ein Gang: Zwischen Ein- und Ausgang wird der Grundriss aus zwei Mauern entwickelt. Durch Annäherung und Auseinandertreten schaffen diese die Nischen und Wölbungen für die Räume. Der langgezogene Zugang mündet in einen Innenhof, um den sich der eigentliche Gottesdienstraum, der Gemeinschaftsraum und die Wohnräume der Pfarrerwohnung gruppieren. Am Gottesdienstraum vorbei führt ein Weg zum Ausgang. Im ehemaligen KZ war die Topographie an den Sichtachsen und Schusslinien der Überwachungstürme orientiert. Es herrschte Rechtwinkligkeit und Geradlinigkeit. Im Kontrast dazu hat der Grundriss der Versöhnungskirche keine rechten Winkel und keine vollständig geraden Blickachsen.

     

    Außenbau

    Dachau| Versöhnungskirche | Außenbau | Foto: Philipp Stoltz

    Dachau| Versöhnungskirche | Foto: Philipp Stoltz

    Der plastische Betonkörper ist von außen nur schwer als geschlossener Bau zu erfassen, denn sein Großteil liegt unterirdisch. Erst an der Stelle des Gottesdienstraums wird er auch über dem Boden sichtbar und erreicht über der Altarwand seinen höchsten Punkt. Striffler schreibt über seine Kirche: „Sie ist als eine lebendige Spur in die unbarmherzige Fläche des Lagers eingegraben, als eine bergende Furche gegen das unmenschliche Ausgesetztsein, das man auch heute immer wieder spürt, wenn man durch das Lager geht.“

     

    Innenraum

    Dachau| Versöhnungskirche | Innenraum | Foto: Philipp Stoltz

    Dachau| Versöhnungskirche | Foto: Philipp Stoltz

    Die Besucher steigen über die Treppenstufen des ausgreifenden Zugangs hinunter zur Kirche und gelangen in einen bedrängenden und zugleich bergenden schmalen Tunnel, in dem nur ein Spalt offen bleibt. Auch akustisch unterscheidet sich hier der Betonboden vom knirschenden Kiesfeld des KZ-Geländes, der einem – so der Architekturkritiker Ulrich Conrads – „durch die Sohlen brennt“. Aus diesem Tunnel tritt man in einen sich zum Himmel öffnenden Innenhof und blickt durch die Glasschiebewände auf den eigentlichen Gottesdienstraum. Im Rücken liegt ein Veranstaltungsraum, der auch als Winterkirche dient. Der Ausgang führt an der Ausbuchtung des Kirchenraums vorbei und steigt im Westen hin wieder an.

  • Liturgie und Raum
    Dachau| Versöhnungskirche | Altarraum | Foto: Philipp Stoltz

    Dachau| Versöhnungskirche | Altarraum | Foto: Philipp Stoltz

    Der Gottesdienstraum in der Versöhnungskirche muss den unterschiedlichsten Veranstaltungsformen und -größen gerecht werden. Meist sind es Einzelpersonen oder Kleingruppen, auf die der Raum beim Durchschreiten wirkt und denen die Möglichkeit zur Andacht geboten werden soll. Der Andachtsbereich befindet sich an der linken Seite des Gottesdienstraumes, wo die geknickte Altarwand aus Beton eine halb offene Nische schafft, während in der rechten Raumhälfte der Weg weiter nach hinten zum Ausgang führt. Es ist auch möglich, das Angebot zur Andacht in der Versöhnungskirche nicht anzunehmen und daran vorbei direkt nach draußen zu gehen.

    Je nach Veranstaltungsgröße kann sich der Pfarrer am runden Altar entweder ganz den Besuchern auf den ebenfalls am linken Rand diagonal aufgestellten Bänken zuwenden oder sich mehr zur Mitte des Raumes hin positionieren und so eine größere Fläche für den Gottesdienst nutzen. Bei besonders großen Gottesdiensten lassen sich die Glaswände zum Innenhof öffnen, um diesen mit zu verwenden. Auch das Lesepult in der Raummitte lässt sich in alle Richtungen ausrichten, sein Gegenstück an der Wand bildet die Osterkerze. Die Kirche hat weder Kanzel noch Taufstein.

  • Ausstattung
    Dachau| Versöhnungskirche | Kreuz | Foto: Philipp Stoltz

    Dachau| Versöhnungskirche | Kreuz | Foto: Philipp Stoltz

    Alle Ausstattungsgegenstände wurden von internationalen Gruppen gestiftet. Das Abendmahlsgerät beispielsweise wurde von Verbänden aus Polen, den Niederlanden, der Tschechoslowakei, den deutschen Freikirchen, etc. gespendet. Im tunnelartigen Eingangsbereich wurde ein Betonrelief von Hubertus von Pilgrim durch Gipseinlagen in der Betonschalung mitgegossen. Die Gestalten erinnern an liegende Menschen, im Stil von Katakomben.

    In das stählerne Portal von Fritz Kühn am Ende des Durchgangs ist in vier Sprachen ein Vers aus Psalm 57 eingraviert: „Zuflucht ist unter dem Schatten deiner Flügel“. Es wurde gestiftet von den evangelischen Landeskirchen der DDR. Besonders hervorzuheben das Kruzifix im Kirchenraum von Fritz Koenig. Angelehnt an seine Bronzeskulptur „Kreuz VI“ wurde in die ansonsten kahle Betonwand ein Kubus aus Bronze eingelassen, aus dem in der Mitte eine menschenähnliche Figur hervorbricht und den Würfel kreuzförmig aufklaffen lässt.

    Die Lichtöffnung an der linken Seite des Kirchenraums über der Osterkerze wurde nach dem Entwurf von Emil Kiess gestaltet: Ein Mosaik aus unterschiedlich dicken Glaswürfeln bildet das Fenster, am oberen Ende ist als einziger Farbakzent des ganzen Baus ein großer Punkt aus blutroten Glaswürfeln eingearbeitet. Im Eingangsbereich des gegenüberliegenden Gesprächsraumes züngelt wie eine Flamme die Bronzeskulptur des niederländischen Bildhauers Carel Kneulman himmelwärts. Mit dem Titel „Die drei Männer im Feuerofen“ bringt sie die unmittelbare Nähe der Krematoriumsschlote von Dachau mit der biblischen Erzählung aus Daniel 3 in Verbindung.

  • Von der Idee zum Bau

    Die Geschichte des Baus ist eng mit der Erinnerungskultur vor Ort verwoben. Der Großteil der vom NS-Regime inhaftierten Geistlichen wurde im KZ Dachau im ‘Pfaffenblock’ festgehalten, wo diese in Baracke 26 eine eigene Lagerkapelle hatten. Die religiöse Verarbeitung, vor allem durch die inhaftierten Pfarrer, setzte schon wenige Tage nach der Befreiung ein, als auf dem Appellplatz ein großes Kreuz aufgerichtet wurde. Für die nach 1945 auf dem Gelände untergebrachten Ostvertriebenen wurde eine Kleinkirche aus dem Bartningschen Notkirchen-Programm gebaut, die mit dem Bau der Versöhnungskirche nach Ludwigsfeld versetzt wurde.

    Die erste Gedenkkirche war die katholische Todesangst-Christi-Kapelle des Münchner Architekten Josef Wiedemann, die 1960 vor allem auf Betreiben des Weihbischofs Johannes Neuhäusler – selbst ehemaliger Dachauer Gefangener – gebaut wurde. Dieser monumentale Bau beherrscht nun die Hauptsichtachse des Geländes. Hinter ihr liegt, direkt hinter der KZ-Mauer, ein Karmeliterinnenkloster. Eine jüdische Gedenkstätte folgte erst 1967.

    Als die Evangelische Kirche aufgefordert wurde, eine Gedenkkirche zu errichten, reagierte man zunächst skeptisch. Nur eine kleine Minderheit der NS-Opfer waren Christen. Auch hatte man Vorbehalte, die Gefangenschaft von Geistlichen als Martyrium zu deuten und damit zur Heilsgeschichte in Beziehung zu bringen. Viele Protestanten hatten sich zudem mitschuldig gemacht, sodass ein kleines Sühnekreuz zunächst angemessener erschien.

    Der Anstoß durch die katholische Kapelle und vor allem die Initiative des ‘Nederlands Dachau Comité’ unter Leitung von Dirk de Loos bewogen schließlich die EKD, den Bau der Versöhnungskirche anzukündigen und einen beschränkten Wettbewerb durch den Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautags durchführen zu lassen. Viele Architekten taten sich mit dem Entwurf schwer, einige zogen sich aus dem Wettbewerb zurück. Helmut Striffler konnte mit seinem Beitrag überzeugen. Die Kirche wurde am 30. April 1967 durch Hermann Dietzfelbinger geweiht, die Predigt hielt Martin Niemöller, der selbst in Dachau gefangen gehalten worden war. Heute dient die Kirche als Gedenk-, Lern-, Seelsorge- und Gottesdienstort. Die Evangelische Kirche betreibt hier mit festen Stellen aktiv und intensiv Erinnerungsarbeit.

  • Der Architekt Helmut Striffler

    Der Architekt Helmut Striffler wurde am 1. Februar 1927 in Ludwigshafen am Rhein geboren. An der TH Karlsruhe studierte er bei Otto Ernst Schweizer und Egon Eiermann. Für letzteren arbeitete er an dessen Pforzheimer Matthäuskirche (1953/56) mit. Striffler selbst wurde zunächst mit seinen Kirchenprojekten in Mannheim bekannt: der Trinitatiskirche Mannheim (1959), der Jonakirche auf der Blumenau (1960) und der Versöhnungskirche im Stadtteil Rheinau (1965). Die Versöhnungskirche Dachau verstand er als Zäsur in seinem Schaffen. Ab 1969 lehrte er an den Technischen Universitäten in Hannover und anschließend in Darmstadt bis zur seiner Emeritierung 1992. Von 1962 bis 1997 war er Mitglied im Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautags. Helmut Striffler verstarb am 2. Februar 2015 in Mannheim.

  • Literatur (Auswahl)
    • Elija Boßler: Gegen das Vergessen – Kunst und Geschichte, München 2007.
    • Thomas Erne/Jörg Probst: Beton. Material und Idee im Kirchenbau, Marburg 2014.
    • Kai Kappel: Religiöse Erinnerungsorte in der KZ-Gedenkstätte Dachau, München 2010.
    • Kai Kappel/Matthias Müller/Felicias Janson (Hg.): Moderne Kirchenbauten als Erinnerungsräume und Gedächtnisorte, Regensburg 2010.

     

    Wir danken allen Bildgebern für ihre freundliche Unterstützung: Die Bildnachweise werden jeweils am Bild selbst geführt.

Text: Philipp Stoltz M. A., München (Beitrag online seit 12/2015)

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