Pforzheim

Matthäuskirche

Anschrift Kirche
Hochkopfstraße 30
75179 Pforzheim

Wo Dickglas Baugeschichte schrieb

Wie wäre wohl das Erscheinungsbild der Pforzheimer Matthäuskirche ausgefallen, hätte ihr Architekt Egon Eiermann nicht den Mut gehabt, eine für Deutschland bahnbrechende Neuerung auszuprobieren? Die Rede ist von Dickglas, einer Gussglastechnik aus Frankreich, die ganz besondere Licht- und Farbreflexe ermöglicht. Im Fall der Matthäuskirche wurden Dickglasscheiben in 2.066 quadratische Betonsteine eingefasst, aus denen sich die Wände des Baus zusammensetzen. Entstanden ist nicht nur ein einzigartiger Gottesdienstraum, sondern auch ein Ort, der Architekturbegeisterte aus aller Welt anzieht.

  • Überblick
    Ort
    Pforzheim

    Landeskirche
    Evangelische Landeskirche in Baden


    Name der Kirche
    Matthäuskirche

    Einweihung
    1953 (12. Juli)

    Architekten
    Egon Eiermann, Helmut Striffler

    Künstler
    Hans-Theo Baumann, Paul Dierkes, Erhart Mitzlaff, Jürgen Weber
    Besonderheit
    Die Matthäuskirche vereint erstmals in einem deutschen Sakralbau die Werkstoffe Beton und Dickglas – ein Vorbild für viele Kirchen der Nachkriegszeit.

    Nutzung
    Gemeindekirche der Evangelischen Matthäusgemeinde Pforzheim

    Standort / Städtebau
    Die Matthäuskirche war ursprünglich von Wiesen und Obstbäumen umgeben. Mit dem später errichteten Gemeindezentrum befindet sie sich heute inmitten eines kleinteiligen Wohngebiets.

  • Beschreibung

    Grundriss

    Pforzheim | Matthäuskirche | Grundriss

    Pforzheim | Matthäuskirche | Grundriss

    Der Kirchengrundriss formt ein Rechteck, das von Westen über eine Treppenanlage erschlossen wird. Unterteilen lässt es sich in vier Achsen, wobei der Eingangsbereich eine Orgelempore umfasst, die über eine freistehende Wendeltreppe betreten werden kann. Durch einen Gang verbunden, erhebt sich nördlich der Kirche ein Glockenturm auf quadratischem Grundriss.

     

    Außenbau

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Die Matthäuskirche stellt sich nach außen als doppelstöckiger, von Betonbindern getragener Saalbau mit flach geneigtem Satteldach dar. Die Hanglage ermöglicht es, sowohl das Obergeschoss mit dem Kirchenraum als auch das Untergeschoss mit dem Kindergarten ebenerdig zu betreten. Über eine Treppenanlage zu erreichen ist das Eingangsportal, das von einem Baldachin überfangen wird. Die Wandflächen zwischen den von außen sichtbaren Betonbindern sind völlig in quadratische Lochsteine mit Dickglasscheiben aufgelöst. Dem Beton für die roten, weißen und grauen Formsteine wurde zermahlener Trümmersplitt des im Zweiten Weltkriegs zerstörten Pforzheims beigemischt.

     

    Innenraum

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Der erhöhte Altarbereich mit dem darüber schwebenden Baldachin bildet den monumentalen Fixpunkt im ansonsten nicht weiter untergliederten Kirchenraum, der seinen feierlichen Charakter durch die allseitig wandhohe Verglasung erhält. Die während des Herstellungsprozesses entstandenen Oberflächenstrukturen und Einschlüsse brechen das einfallende Licht je nach Wetterlage und Tageszeit völlig unterschiedlich. Als weitere Verbindung zwischen Außen- und Innenraum dient der kleinteilig und verschiedenfarbig gestaltete Fußboden, der ursprünglich vor der Kirche mit einem ähnlichen Belag fortgesetzt wurde.

  • Liturgie und Raum
    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Die Entwürfe der Prinzipalstücke Altar, Kanzel und Taufbecken stammen von Egon Eiermann und bilden zusammen mit dem Raum ein Gesamtkunstwerk: Einen besonderen Stellwert in der Designgeschichte besitzt die Altarkonstruktion, das sog. „Eiermann-Gestell“ – eine verschraubte Stahlrohrleiter-Konstruktion mit zwei stabilisierenden Streberohren. Zusammen mit einer aufgelegten Holzplatte entstand so ein schlichter Abendmahlstisch, dem lediglich durch seinen erhöhten Standort und den Betonbaldachin eine Sonderstellung im liturgischen Geschehen zukommt. Ebenfalls aus Stahlrohren zusammengesetzt ist das Gestell für die gläserne Taufschale. Im Chorbereich steht sie hervorgehoben auf einer kreisrunden, polierten Marmorfläche rechts neben dem Altarpodest – zusätzlich betont durch besonders schmuckvoll gestaltete Glaselemente in den Betonbausteinen dahinter. Bei der Kanzel, die links neben dem Altarpodest aufgestellt ist, handelt es sich um einen aufgemauerten, mehrstufigen Unterbau, der sich an traditionellen Vorbildern orientiert und auf diese Weise den Stellenwert der Predigt verkörpert.

  • Ausstattung
    Pforzheim | Matthäuskirche | Innenraum | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Die Verglasung stellte für Egon Eiermann die eigentliche künstlerische Ausstattung dar. Außer den notwendigen Prinzipalstücken Altar, Kanzel und Taufbecken besitzt die Matthäuskirche daher nur wenige weitere Kunstwerke: Am Außenbau der Südfassade wurde etwas über Augenhöhe die Plastik eines Engels des Berliner Künstlers Paul Dierkes angebracht. Auf gleicher Höhe befindet sich im Innenraum ein metallener Lorbeerkranz zum Gedenken an die Kriegsopfer der Stadt Pforzheim. Das 1959 geschaffene, bronzene Gabelkreuz über dem Altar ist ein Werk des Stuttgarter Bildhauers Jürgen Weber. Es ersetzt ein Standkreuz aus Glas von Egon Eiermann und Hans-Theo Baumann, das für diesen Ort als zu klein befunden und 1953 entfernt wurde. Die an der Emporenbrüstung angebrachten Bildtafeln auf Sperrholz von 1953 sind Werke des damals in der Nähe von Bremen tätigen Künstlers Erhart Mitzlaff. Es handelt sich dabei um abstrakte Interpretationen des Themas „Gesetz und Gnade“. 1954 wurde die Orgel aus der Stuttgarter Werkstatt Friedrich Weigle in Betrieb genommen. Beachtenswert ist auch die Bestuhlung: In Zusammenarbeit mit dem Esslinger Unternehmen „Wilde + Spieth“ entwarf Eiermann eigens für die Matthäuskirche das Sitzmöbel „SE 19“, das aus Buchenholz und Rattangeflecht hergestellt „die Kühle der sichtsteinernen Architektur“ abmildern sollte. Die acht Hängeleuchten aus weiß lackierten Metallblendringen, ebenfalls von Eiermann ausgewählt, greift auf die Modernität der 1970er Jahre voraus.

  • Von der Idee zum Bau
    Pforzheim | Matthäuskirche | Turmtreppe | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim | Matthäuskirche | Foto: Harald Spies, Pforzheim

    Pforzheim gehörte zu den am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Städten im Zweiten Weltkrieg: Ein Bomberangriff am 23. Februar 1945 löschte 98 Prozent der Innenstadt aus. Die Enttrümmerung Pforzheims dauerte noch bis in die 1950er Jahre hinein an. Das gesellschaftliche und damit das kirchliche Leben verlagerte sich darum vor allem auf die weniger zerstörten Randbereiche, in welchen zusätzlich Flüchtlinge und Aussiedler eine neue Heimat fanden – so auch im Stadtteil Brötzingen im äußersten Westen, zu dem die Gartenstadt Arlinger gehört. Für die 1946 gegründete evangelische „Arlinger-Pfarrei“ wurde eine eigene Kirche notwendig, für die Egon Eiermann gewonnen werden konnte. Es folgte die Einbindung seines Freundes Hans-Theo Baumann in das Projekt, der die Idee der Verwendung von Dickglas einbrachte – eine Technik, die den Nachkriegskirchenbau wesentlich beeinflussen sollte. Ab 1952 übernahm außerdem Helmut Striffler die Bauleitung.

    Den Grundstein für diese anfangs lebhaft diskutierte evangelische Kirche der Nachkriegszeit legte man am 13. Juli 1952, die Einweihung erfolgte am 12. Juli 1953. 1957 wurde schließlich der freistehende Glockenturm fertiggestellt. Dem Beton für die roten, weißen und grauen Formsteine hatte man zeichenhaft zermahlenen Trümmersplitt der zerstörten Stadt beigemischt. Ursprünglich erhob sich der Bau als „Kirche im Grünen“ auf einer Anhöhe inmitten von Obstbäumen – eine Idylle, die 1972 durch die Errichtung des Pfarrhauses nördlich des Baus zerstört wurde. Mit den Sanierungsarbeiten von 1973/74 erhielten die Betonrahmen außen zum Witterungsschutz eine einheitliche Putzschicht, die seitdem den Sichtbeton überdeckt. Im Inneren wurde eine Holzdecke in Betonfarbe angebracht. 1996 folgte unter Bauleitung von Helmut Striffler eine behutsame Instandsetzung des Turms, der seine ursprüngliche Oberfläche weitgehend beibehalten durfte.

  • Die Architekten Egon Eiermann und Helmut Striffler
    Berlin | Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche | Foto: S. Angerhausen

    Berlin | Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche | Foto: S. Angerhausen, Trier

    Egon Eiermann, am 29. September 1904 in Neuendorf bei Potsdam geboren, arbeitete nach seinem Architekturstudium an der TH Berlin in den 1920er Jahren in Hamburg und Berlin. 1931 gründete er mit Fritz Jaenecke sein eigenes Büro. Unter dem NS-Regime, dem er kritisch gegenüberstand, konnte er wenige Industriebauten verwirklichen. An diese Bauaufgabe knüpfte er nach dem Zweiten Weltkrieg an. Daneben verwirklichte er aber auch immer wieder andere Projekte, etwa den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel, das Bonner Bundestagshochhaus, das Kanzleigebäude der Deutschen Botschaft in Washington D. C. oder verschiedene Firmenzentralen in Deutschland. Egon Eiermann verstarb am 19. Juli 1970 im Alter von 65 Jahren in Baden-Baden.

    Im Gesamtwerk Eiermanns nehmen Sakralbauten keinen großen Platz ein: Die Matthäuskirche war Egon Eiermanns erster Kirchenbau. Sein zweiter und letzter war die berühmte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, bei der er ebenfalls Betonwaben mit Dickglas verwendete. Beide Kirchen stellten Vorbilder für viele weitere Kirchenbauten der Nachkriegszeit dar. Anders als Baumeister wie Otto Bartning oder Rudolf Schwarz, die sich intensiv mit liturgischen Fragen auseinandersetzten und diese in Architektur übersetzten, stand für Eiermann hauptsächlich das Problem des Raumes im Vordergrund. „Eine Kirche ist genauso ein Zweckbau wie eine Bedürfnisanstalt“, lautete eine recht plakative Aussage von ihm. Die Ästhetik seiner Gebäude leitete sich für Eiermann vornehmlich aus dessen Nutzung ab, während er von der Idee der künstlerischen Intuition wenig hielt.

  • Literatur (Auswahl)
    • Herbert Ahlhaus/Wolfgang Jost/Martin Schleifer: 50 Jahre Matthäuskirche Pforzheim. Festschrift, Pforzheim 2003.
    • Egon Eiermann. Bauten in Baden-Württemberg 1946-1972, hg. von der Egon Eiermann-Gesellschaft e. V., Ostfildern 2001, 70-76.
    • Heidi Fischer: Matthäuskirche Pforzheim, 1951-1953 (Turm bis 1955/56), in: Annemarie Jaeggi (Hg.): Egon Eiermann (1904-1970). Die Kontinuität der Moderne, Katalog, Karlsruhe/Berlin 2004/2005, 156-159.
    • Chris Gerbing: Leuchtende Wände in Beton. Die Matthäuskirche Pforzheim (1951–1953) von Egon Eiermann. Ihre Vorbilder, ihre Vorbildfunktion, Karlsruhe 2013.
    • Kai Kappel: Memento 1945? Kirchenbau aus Kriegsruinen und Trümmersteinen in den Westzonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2008, hierin: 268-270.
    • Christoph Timm: Pforzheim. Kulturdenkmale in den Ortsteilen (Denkmaltopographie Baden-Württemberg II, 10.2), Heidelberg-Ubstadt-Basel 2004.
    • Fotoporträt zur Matthäuskirche Pforzheim , von Harald Spies, auf: flickr.com (www.flickr.com/photos/hwspies/43676599160/in/photolist-Qhzpph-29jfasU-29xxZg7-2baEuzq-2bdChqG-2cjHwVM-2ceWFpp-ZieMQy-2cV7RS4-NssEC2-UfEJRs-ZFZmnF-UfEEhs, Abrufdatum: 17. November 2018).

     

    Wir danken allen Bildgebern für ihre freundliche Unterstützung: Die Bildnachweise werden jeweils am Bild selbst geführt.

Text: Dipl.-Theol. Manuel Uder M. A., Trier (Beitrag online seit 12/2018)

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